Literatur und Lesen in der Zukunft – Gedankenmodelle

Üblicherweise schreibe ich über die Vergangenheit, erzähle Geschichten aus dem alten Wien, erwecke längst vergangene Personen und Ereignisse zum Leben.
Aber in diesem Text geht es um etwas GANZ ANDERES – um das genaue Gegenteil nämlich: um Zukunftsvisionen.

Die Wand vor mir flackert kurz, dann spiegelt sich das Sonnenlicht in einem Bergsee vor „angezuckerten“ Felsriesen. Im Hintergrund höre ich Vögel zwitschern und Bienen summen, bin umgeben vom Duft einer Sommerwiese. Ich trete barfuß auf den Boden, der sich weich anfühlt wie Moos.

Alles ist perfekt – bis ich kurz mit der Hand durch den Sonnenstrahl streiche und merke: Er ist nicht warm.

Virtuell gesteuerte Räume – das große Versprechen der Zukunft. Wir werden bald in Häusern leben, deren Wände sich in Sekunden vom New Yorker Loft in einen venezianischen Palazzo verwandeln. Wir können ein Frühstück mit Blick auf die Alpen genießen, Kaffee in einem schicken Vintage-Café in Manhattan trinken, das Abendessen in einem Restaurant unter künstlichen Sternen einnehmen. Alles steuerbar per Gedankenbefehl. Willkommen im Jahr 2075.

Und doch hoffe ich, dass die Menschen inmitten ihrer blitzblanken Scheinwelten am Ende des Tages nach etwas greifen, das nicht aufgeladen werden muss. Etwas, das nicht verschwindet, wenn der Strom ausfällt oder der Server neu startet. Sie nehmen hoffentlich noch Bücher zur Hand! Diese echten aus Papier, mit Eselsohren, Kaffeeflecken und der rauen Oberfläche, die sich lebendig anfühlt. Und sie werden feststellen, dass die Geschichten darin etwas tun können, was kein Hologramm schafft: die Seele berühren.

Dennoch wird Lesen bald etwas von Rebellion an sich haben, es wird ein Kampf gegen die Übertechnisierung und für einen Lebensstil, der keine Follower generiert und keine Likes bringt. Es wird ein leiser Widerstand gegen das Streben nach permanenter virtueller Präsenz und dem Wunsch nach digitaler Unsterblichkeit

Aber wie bringen wir die Menschen von morgen dazu, sich wieder freiwillig zu verlieren – nicht in Simulationen, sondern in Gedankenwelten?

Hier ein paar utopische, aber durchaus realisierbare Ideen – getragen von der Vorstellung einer friedlichen Koexistenz und gegebenenfalls sinnvollen Verbindung von analoger und digitaler Welt.

1. Bücherautomaten an jeder Straßenecke

Keine Werbung, kein Lärm. Nur ein leises Summen, wenn der Automat aufwacht. Auf Knopfdruck spuckt er dir eine Kurzgeschichte aus – genrebasiert oder zufällig, alt oder neu. Für fünf Minuten in der Straßenbahn oder für eine Stunde im Park. Gedruckt auf recyceltem Papier, lokal produziert. Ein Snack für die Seele statt für den Algorithmus.

2. Win-win-Welten für Leser*innen, Verlage und Autor*innen

Warum nicht ein System, das Lesen belohnt – nicht mit Punkten, sondern mit Verbindung?
Jedes gekaufte oder geliehene Buch gibt dir Zugang zu einem digitalen Raum: eine Lesungsaufnahme, ein Gespräch mit der Autorin, ein Blick ins Notizbuch. So wird das Buch nicht zum Ende, sondern zum Anfang einer Erfahrung. Und Autor*innen erhalten dafür direkte Anerkennung.

3. Interaktive Lesesalons – modern gedacht

Keine verstaubten Bücherclubs, sondern kleine, feine Treffpunkte (analog oder virtuell), wo man gemeinsam liest. Jeder für sich. Nicht aus Pflicht, sondern weil es schön ist, mit anderen in Geschichten zu versinken – und sich danach vielleicht mit Tee oder Wein über Figuren, Gefühle und Fragen auszutauschen.

4. Geschichten, die dich finden

Stell dir vor, du sitzt in der U-Bahn. Dein Blick schweift über die Wand – und dort steht ein kleiner QR-Code: „Heute schon eine Stimme aus dem 19. Jahrhundert gehört?“
Du scannst – und liest den innersten Gedanken einer jungen Näherin, niedergeschrieben von einer Autorin aus 2025, inspiriert von Originalquellen.
Kunst trifft Alltag. Vergangenheit trifft Zukunft.

Zurück zum Anfang

Wenn ich über das Wien der Jahrhundertwende schreibe, stelle ich mir oft vor, wie die Menschen aus der Vergangenheit auf unsere Zukunft blicken würden.
Würden sie staunen? Wahrscheinlich.
Würden sie sich verloren fühlen? Vielleicht.
Aber ich glaube: Sie würden sich freuen, wenn wir weiterhin lesen. Wenn wir ihre Gedanken, Hoffnungen, Zweifel – festgehalten zwischen zwei Buchdeckeln – in neue Zeiten hinübertragen.

Denn Bücher sind nicht altmodisch.
Sie sind Zeitmaschinen.

Und so sitze ich – in meinem ganz realen Raum mit ganz echten Wänden – und wünsche mir, dass die Menschen auch in 50 Jahren noch literarische Werke, gedruckt auf Papier, konsumieren. Auch wenn das Lesen dann vielleicht nicht mehr selbstverständlich ist, sondern möglicherweise Luxus, den man im Rahmen von Wellness- oder Me-time-Momenten genießt.

Gabriele Hasmann
Autorin | Theatermacherin | Journalistin

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